50 Jahre Wachstum
50 Jahre Wachstum
50 Jahre rasante Wirtschaftsentwicklung, der Fall des Eisernen Vorhanges und die Globalisierung nach altem europäisch-amerikanischem Kolonialmuster haben unsere Gesellschaft umgekrempelt. Die phänomenalen wirtschaftlichen Bedingungen, die Möglichkeiten und Erwartungen prägen Art und Tempo der momentanen Entscheidungen. Das Profitieren, das Bewahren und Mehren des Wohlstandes sind wesentliche Triebfedern für das Handeln im Alltag. Das verinnerlichte Dogma des angeblich unabdingbaren kontinuierlichen Wachstums bewirkt in der Landschaft viel tiefgreifendere Änderungen, als es die publizierten Absichten, die blosse Anzahl der Bewohner oder die Statistik glauben machen wollen.
Irgend jemand musste einmal mit einer Zukunftsvision die Aufbruchstimmung der Schweizer treffen. Dem Wirtschaftsprofessor Francesco Kneschaurek war es in den 70er Jahren vorbehalten, dem Denken von Behörden, Planern, Unternehmern und Spekulanten einen nachhaltigen Schub zu geben. Er prognostizierte erstmals, dass in der Schweiz 10 Mio Menschen leben könnten. In den Köpfen der Baukommissionen, der Landbesitzer, der Geschäfte und der Verwaltungen begann es zu leuchten. Skeptiker und Kritiker hatten es schwer, den denkbaren Aufschwung mit altväterlich profanen Hinweisen auf Veränderungen und Auswirkungen in Frage zu stellen. Kneschaurek artikulierte ein Bedürfnis der entscheidenden Gesellschaft. Als unabhängiger, unanfechtbarer Experte schaffte er für Behörden und Volk die geistigen Grundlagen für eine mögliche neue Schweiz. weil die Anzahl der vermeintlichen Profiteure gross genug war. Weil die Anzahl der vermeintlichen Profiteure mehrheitsfähig war, konnten in einer eigentlichen Euphorie die planerischen, rechtlichen und organisatorischen Entscheide für die Umsetzung getroffen werden. Gut eidgenössisch-föderalistisch konnten alle teilhaben. Aus dieser Epoche der Schweizer Geschichte sind uns, unter anderem, über das Land verteilt rechtsgültig ausgeschiedene Bauzonen für mehr als 10 Mio Einwohner geblieben.
Der materielle Wohlstand und der technische Fortschritt haben den prognostizierten Entwicklungen und Hoffnungen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wohlstand und Lebensstil bewirkten, dass die Schweizer immer weniger Nachkommen haben. Der einheimische Nachwuchs genügt heute schlicht nicht mehr für ein wirkliches Bevölkerungswachstum. Dass die Lebenserwartung steigt, genügt nicht um die Bauzonen füllen. Heute macht sich die Gesellschaft sogar echt Sorgen, wie die Finanzierung der Altersvorsorge gesichert werden kann, wenn immer weniger junge Leute Beiträge einzahlen.
Für eine gewisse Zeit halfen die „Gastarbeiter“ der Industrie und dem Wachstum auf die Sprünge. Mit Rationalisierungen, technischem Fortschritt, rigorosem Einsatz von Geld und Ressourcen wurde die Arbeitsleistung der Werktätigen gesteigert. Heute kann man mit viel weniger Leuten mehr produzieren, als die Gesellschaft verbraucht. Dazu kommt, dass der Einkauf der Produkte aus einem billigeren Land für uns geldmässig in vielen Fällen rentabler ist. Mit einer erleichterten Einwanderung liesse sich das Bevölkerungswachstum steigern. Dieser Möglichkeit, die Bauzonen zu nutzen, widerspricht allerdings der Erwartung, dass vor allem der Wohlstand wachsen soll. Mit ärmeren Leuten lässt sich das kaum bewerkstelligen. Diejenigen, die gleich reich sind wie wir, sind weltweit relativ selten und überall willkommen.
Selbst eine zahlenmässig stagnierende Bevölkerung kann eine grössere Fläche überbauen und nutzen. Dabei ist die Anzahl der Menschen gar nicht so wichtig. Viel wichtiger ist, dass sich jedermann so viel Wohnfläche wie möglich leistet, dass wir überall erreichbar und dass wir innerhalb der Schweiz und der Welt beweglich sind. Die aktive Bevölkerung generiert damit Wachstum. Reale und vermeintliche Krisen, neue Wachstumsmärkte, ein ständiger Wandel haben uns zum Umdenken gezwungen und aus der verwurzelten Trägheit geweckt. Stundenlange Arbeitswege sind zumutbar bis normal. Dafür sind die persönlichen Möglichkeiten enorm gestiegen: Wer sich nirgends bindet, flexibel ist und sich gut verkauft, der oder die kann sich sowohl den besten Arbeitsplatz als auch den besten Wohnort aussuchen. Man lernt lebenslang – zumindest das, was einem der Beruf abverlangt oder was einem mehr materiellen Wohlstand und Ansehen verspricht. Lernen bedeutet vor allem flexibel werden, flexibel bleiben und neue Chancen laufend nutzen. So erreichten wir die „10-Millionen-Schweiz“ sogar mit wesentlich weniger Einwohnern. Wenigstens in Bezug auf den Landschaftsverschleiss und die Auswirkungen auf die Umwelt.